Warum nehmen Frauen länger Elternzeit als Männer? Muss ein Kind für den Beruf eine Belastung sein? Gibt es doch noch einen Karrierekick für die Mitarbeitenden 55+? Aigul Zhalgassova, Redaktion GROW2GLOW, sprach darüber mit Birgit Steinborn, Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Siemens AG.

Zhalgassova: Frau Steinborn, in meiner Umgebung sehe ich hochqualifizierte Frauen mit perfekten Hochschulabschlüssen, internationaler Erfahrung, Führungspositionen. Sobald sie aber Kinder bekommen, übernehmen sie einen höheren Anteil an deren Betreuung und bleiben länger in der Elternzeit als ihre männlichen Partner. Teilen Sie diese Beobachtung?

Steinborn: Nein. Meine Beobachtung ist eine andere. Je höher die Qualifikation einer Frau ist, desto kürzer scheidet sie aus dem Arbeitsleben aus.

Aber im Durchschnitt stimmt es schon, dass Frauen länger ausscheiden als Männer. Der Hauptgrund ist meist der Unterschied im Einkommen. Frauen arbeiten immer noch in Tätigkeiten, die schlechter bezahlt werden. Bei Siemens zum Beispiel ist der Frauenanteil in den Bereichen interne Services, Human Resources, Kommunikation und Finanzwesen größer als 60 Prozent. Wo besser bezahlt wird – in Engineering, Projektmanagement, Instandhaltung und Vertrieb sind die Frauen rar, teilweise unter 10 Prozent. Wer weniger verdient, bleibt zu Hause bei den kleinen Kindern. Das ist ein einfaches Rechenbeispiel in der Familie.

Zhalgassova: Was gibt es noch für weitere Gründe?

Steinborn: Der zweite Punkt ist oft der Altersunterschied zwischen Mann und Frau. Wenn Paare Kinder bekommen, ist der Mann öfter weiter in der Karriere vorangeschritten als die Frau. Er sagt dann ‚Jetzt wäre es blöd, wenn ich auf Teilzeit gehen würde. Dann würde es einen Knick geben‘. Mit diesem Argument sind meistens die Frauen bereit, ihre Karriere zurückzustellen. Leider sind sie dann häufig nicht mehr dran.

Neue private und berufliche Rollenmodelle für Frauen und Männer

Zhalgassova: Das heißt, um Frauen ein Berufs- und Familienleben zu ermöglichen, brauchen wir Männer. Ein wahres Männer-Empowerment für eine Elternzeit, die länger als zwei Monate ist. Wie ermutigen wir die männlichen Kollegen bei Siemens, sich für ihr Recht, ein Kind aufzuziehen, einzusetzen?

Steinborn: Das Image eines Vaters in Elternzeit hat sich schon sehr verändert. Ich kenne viele junge Männer, die mit viel Selbstbewusstsein ihre zwei Monate Elternzeit nehmen. Aber das Einkommen entscheidet doch am Ende, wie lange Väter die Elternzeit nehmen.

Zhalgassova: Was muss sich ändern?

Steinborn: Wir müssen Mädchen bestärken, selbstbewusst ihr eigenes Leben und Einkommen zu planen. Es muss auch für sie gelten: ‘Wähl dir einen Beruf aus, wovon du deine Familie ernähren kannst‘. Das Thema der finanziellen Unabhängigkeit wird immer noch mit Mädchen weniger besprochen. Die Mentalität aus der Zeit, als Frauen ohne Genehmigung ihrer Männer keinen Kaufvertrag unterschreiben oder arbeiten gehen durften, sitzt noch in vielen Köpfen fest. Das braucht vielleicht eine weitere Generation, bis sich die Einstellung grundlegend ändert.

Zhalgassova: Doch kein Weg aus den alten Rollenmodellen?

Steinborn: Doch, wir brauchen und haben Role Models, die etwas anderes vorleben. Und es gibt sie unserem Unternehmen. In einer Podcast-Folge von Natalia Oropeza „Diversity matters“ war Dr. Norbert Gaus von Corporate Technology zu Gast. Er rekrutiert unter anderem aus den Studienbereichen Computer Science und Mathematik. Seinen Nachforschungen zufolge gibt es dort einen höheren Anteil an weiblichen Absolventinnen, als sie prozentual in seiner Organisation vertreten sind. Mit seinem Team hat er daher eine Roadmap entwickelt, um den Frauenanteil in seiner Organisation zu verbessern.

Zhalgassova: In Ihrem LinkedIn-Artikel „Arbeiten in der Corona-Krise: Frauen zwischen mehr ‘Home’ und wenig ‘Office'” zeigen Sie auf, dass Corona die Geschlechterrollen in die Vergangenheit zurückversetzt hat. Frauen reduzieren ihre Arbeitsstunden, um für die Familie zu sorgen. Haben wir als Unternehmen eine Chance, die persönliche Entscheidung bezüglich der Aufgabenverteilung in der Familie zu beeinflussen?

Steinborn: Die Lösung ist mehrschichtig.
Erstens, das Einkommen und die Arbeitsinhalte. Führungsfunktionen in Teilzeit sollen für alle möglich sein. Und viele Männer würden übrigens gern weniger arbeiten, um mehr Zeit mit der Familie zu haben.

Der zweite Punkt ist, Frauen auf allen Ebenen zu fördern. Die Frauenquote auf allen Ebenen, nicht nur auf Vorstandsebene, wäre hier für mich eine Möglichkeit.

Der dritte Punkt sind flexible Arbeitszeiten. Es gibt tarifvertragliche Vereinbarungen, wie T-Zug. Das heißt, mehr Zeit für Familie und Angehörige. Wir brauchen auch mehr Beispiele flexibler Arbeitszeiten, die aber nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen dürfen. Wir fordern eine ausgewogene Work-Life-Balance.

Eltern im Job – ein negatives Image?

Zhalgassova: Ich habe oft gehört, dass Frauen und Männer mit Kindern als unzuverlässig gelten; sie fallen oft aus oder sind an späteren Nachmittagen nicht erreichbar. Wie können wir als Siemens eine familienfreundliche Arbeitsatmosphäre schaffen?

Steinborn: Meine Erfahrung ist eine andere. Die Kolleginnen und Kollegen, die Kinder haben und in Teilzeit arbeiten, können sich sehr gut organisieren. Sie nutzen ihre Zeit sehr effizient.

Wir müssen im Unternehmen aber weiter daran arbeiten, wie Job und Familie besser vereinbart werden können. Das beginnt mit der Terminplanung. Dabei müssen Grenzen der Arbeitszeit beachtet werden. Es gibt ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit, das haben wir in der Vereinbarung zum New Normal Working Model vereinbart.

Auch für die Kinderbetreuung gilt, die öffentlichen Kinderbetreuungsangebote reichen nicht aus. Auch die Siemens-Angebote nicht. Es müssten mehr Betreuungsplätze für Kinder aller Altersgruppen da sein. Das sollten wir unbedingt weiter ausbauen.

Karrierekick für die Mitarbeitenden 55+

Zhalgassova: Im Betriebsrat arbeiten Sie an der Zukunft von Siemens. Stichwort #NextSiemens. Dazu gehört, den Zusammenhalt im Unternehmen zu stärken. Für mich bedeutet das auch die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Generationen. Was haben Sie vor, um die Siemens-Mitarbeitenden 55+ ins Unternehmensgeschehen besser einzubeziehen?

Steinborn: Wer heute Anfang 50 ist, hat noch 15 bis 17 Jahre zu arbeiten. Das ist fast noch ein halbes Berufsleben. Es wäre völlig falsch zu sagen, dass sie sowieso bald ausscheiden und daher für die Qualifizierung nicht mehr in Frage kämen. Im Gegenteil. Gerade im Strukturwandel und der Digitalisierung brauchen wir mehr Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote für alle Beschäftigten. Denn sie sind letztendlich diejenigen, die für den Erfolg unseres Unternehmens sorgen.

Zhalgassova: Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote sind ein Schlüssel zum Erfolg?

Steinborn: Erstens müssen wir Kolleg:innen ermöglichen, sich weiter zu qualifizieren. Dank einer Initiative des Gesamtbetriebsrats und der IG Metall konnten wir mit dem Siemens-Vorstand für Siemens Deutschland einen Zukunftsfonds vereinbaren. Das sind Zusatzmittel für Projekte zur Qualifizierung der Mitarbeitenden, deren Arbeitsplätze sich verändern.

Zweitens plädiere ich dafür, auch für ältere Mitarbeitende weitere Karriereschritte zu ermöglichen. Eine 60-jährige oder ein 60-jähriger Mitarbeitende hat noch sieben Berufsjahre vor sich. Das ist noch eine gute Zeit, um in einer neuen Aufgabe mit der vorherigen Erfahrung arbeiten zu können. Gerade heute ist die Zeit sehr schnelllebig, da sind sieben Jahre eine wirklich lange Zeit.

Ich komme selbst aus der Generation, wo die Kolleginnen und Kollegen mit 55 in vorzeitigen Ruhestand gegangen sind. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen! Aber in vielen Köpfen ist das noch drin. Der ist schon 58, da ist die Rente gleich um die Ecke‘. Aber das stimmt nicht.

Meine Erfahrung ist auch, dass es ideal ist, wenn Jung und Alt zusammenarbeiten. Es kommen die Ideen von Jüngeren und die Erfahrung von Älteren zusammen. Da kann man sehr gut zusammenarbeiten.

Zhalgassova: Sie sind lange Zeit im Betriebsrat tätig und hätten Sie sich mal gewünscht, einen Zauberstab zu haben, um komplexe Probleme zu lösen? Welches Problem in der Arbeitswelt hätten Sie gern mit einem Schwung des Zauberstabs verändert?

Steinborn: Mein Wunsch ist, dass wir über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über „Wollen Frauen Karriere machen“ oder „Können Frauen Karriere machen“ gar nicht mehr sprechen müssen, weil es selbstverständlich ist. Es muss viel normaler und nicht immer hinterfragt werden, ob Frauen im Vorstand, in Management-Positionen oder in den Betriebsratsvorsitzenden-Positionen das überhaupt wollen oder können. Dazu können wir alle gemeinsam beitragen.

Zhalgassova: Vielen Dank für das Interview, Frau Steinborn.